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Nötigung im Straßenverkehr durch dichtes Auffahren

OLG Stuttgart, Az.: 3 Ss 76/95, Urteil vom 27.03.1995

1. Auf die Revision der Angeklagten wird der Entscheidungssatz des am 09. November 1994 verkündeten Urteils des Landgerichts E. wie folgt neu gefaßt:

Die Angeklagte wird auf ihre Berufung in Abänderung des Urteils des Amtsgerichts A. vom 07. Februar 1994 wegen Beleidigung in Tateinheit mit Nötigung zu der Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu je 50,00 DM verurteilt.

Die Angeklagte trägt die Kosten ihrer Berufung einschließlich ihrer notwendigen Auslagen.

2. Die Angeklagte hat auch die Kosten ihrer Revision zu tragen. Die ihr im Revisionsverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen werden jedoch auf die Staatskasse übernommen.

Strafliste: §§ 185, 240, 52 StGB

Gründe

I.

Nötigung wegen dichtem Auffahren
Symbolfoto: Luna Vandoorne / Bigstock

1. Das Landgericht hat die Berufung der vom Amtsgericht wegen Nötigung tateinheitlich begangen mit doppelter Beleidigung zu Geldstrafe verurteilten Angeklagten als unbegründet verworfen.

a) Nach den Feststellungen des Berufungsurteils schloß die Angeklagte am 25. April 1993 als Lenkerin eines Audi bei der Heimfahrt vom B. nach L. auf dem linken Fahrstreifen der A 7 im Bereich der Gemarkung A. kurz nach 20 Uhr zu dem vom Zeugen S. gesteuerten Opel Corsa auf, der sich einige Zeit zuvor, ursprünglich mit einer Geschwindigkeit von 120 bis 130 km/h fahrend, nach links zum Überholen eines Kleinbusses mit Anhänger eingeordnet hatte, welcher gerade von einem nur wenig schnelleren Omnibus passiert wurde. Entsprechend dessen Geschwindigkeit mußten die Lenker der nachfolgenden Fahrzeuge ihr Tempo auf 90 bis 100 km/h verringern, so auch der Zeuge S., der sich dabei dem Pkw vor ihm aber nur auf etwa 50 m näherte. Anders die Angeklagte. Sie versuchte, den Zeugen S während der Annäherung durch mehrfaches Betätigen der Lichthupe, durch Einschalten des Fernlichts und dichtes Auffahren, bis schließlich nur noch ein Abstand von höchstens fünf Metern blieb, wieder auf den rechten Fahrstreifen zu drängen; hierbei war sie sich der abstrakten Gefährlichkeit dieses ihres mehrere Sekunden währenden Verhaltens bewußt und ebenso, daß dieses nach den Gesamtumständen ethisch zu mißbilligen war.

Schon durch die ihr abgeforderte Ermäßigung ihrer Geschwindigkeit und erst recht durch die Erfolglosigkeit ihrer bedrängenden Fahrweise verärgert, wechselte die Angeklagte nun ihrerseits die Spur, beschleunigte und überholte den Opel Corsa des Zeugen rechts. Währenddessen drückte sie den linken Arm an die Scheibe der Fahrertür und zeigte ihren nach oben gestreckten Mittelfinger, den sogenannten „Stinkefinger“. Dies wahrnehmend, fühlten sich der Zeuge S. und ebenso sein Beifahrer, der Zeuge D., in ihrer Ehre herabgesetzt. Nach tatrichterlicher Überzeugung hatte die Angeklagte den „Stinkefinger“ als Ausdruck ihrer Mißachtung auch beiden Zeugen zugedacht.

Unmittelbar anschließend, noch ehe sie mit ihrem Pkw den des Zeugen zur Gänze hinter sich gelassen hatte, steuerte sie gleich wieder auf die linke Spur. Der Zeuge S. mußte deshalb, um einen Aufprall gegen die linke hintere Seite ihres Fahrzeuges zu vermeiden, seinen Pkw nach links bis zum äußersten Fahrbahnrand hinüberziehen und so scharf abbremsen, daß die Reifen quietschten; nur dank seiner Routine – er hatte in der Vergangenheit Motorsport betrieben – gelang es ihm hierbei, weder ins Schleudern noch auf den Mittelstreifen zu geraten. Die verkehrserfahrene Angeklagte hatte vorausgesehen, daß ihr – tatrichterlich als zumindest abstrakt gefährlich gewertetes – Fahrmanöver des Zeugen zwingen würde, stark zu bremsen. Um vollends ihren Ärger auszudrücken und weiterhin auf ihr zügiges Vorankommen bedacht, wollte sie jedoch unbedingt den Überholvorgang erfolgreich beenden; wegen des kürzer werdenden Abstandes zu dem Kleinbus vor ihr hätte sie sich sonst dessen langsamerem Tempo anpassen müssen. Dabei war ihr bewußt, daß der von ihr erstrebte Erfolg angesichts der verwendeten Mittel in gesteigertem Maße sittlich zu mißbilligen war.

b) Das Landgericht stützt seine Tatfeststellungen weitgehend nur auf die für glaubhaft erachteten Aussagen der schon als Anzeigeerstatter aufgetretenen Zeugen S. und D. Die Angeklagte räumte den gerichtlichen Beweisfeststellungen zufolge lediglich ein, am fraglichen Abend mit einem Pkw, der nach Marke, Farbe und Kennzeichen mit dem in der Anzeige beschriebenen Tatfahrzeug übereinstimmt, das betreffende Autobahnstück befahren zu haben; sie erklärte es jedoch für ausgeschlossen, dort bereits gegen 20.10 Uhr gewesen zu sein. Insbesondere aber bestritt sie, an jenem Abend überhaupt je dicht zu einem die linke Spur benutzenden Fahrzeug aufgeschlossen oder auf der Autobahn rechts überholt zu haben; auch habe sie niemanden beleidigt. Die Verteidigung hielt und hält trotz der genauen, sich in allen Merkmalen mit dem von der Angeklagten gesteuerten Pkw deckenden Beschreibung des Tatfahrzeugs eine Verwechslung für möglich. Das Landgericht schloß solches aus.

2. Mit der auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revision rügt die Verteidigung insbesondere Lücken in der Beweiswürdigung und innerhalb der ihr zugrundeliegenden tatrichterlichen Indizfeststellungen.

II.

Die Revision ist nach Beschränkung der Strafverfolgung auch nicht mehr teilweise begründet. Sie verschafft aber Gelegenheit, nach dem jüngst erst bekannt gewordenen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Januar 1995 (1 BvR 718/89 u.a.) zur Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB den wegen der nicht ohne weiteres übersehbaren Tragweite dieser Entscheidung stark verunsicherten Tatgerichten und Staatsanwaltschaften jedenfalls für einen wichtigen Teilbereich wieder einen ersten Halt zu geben; nur im Hinblick hierauf hat der Senat erst gar nicht versucht, eine Entscheidung im Beschlußwege zu ermöglichen.

A. 1. Die näher ausgeführten Angriffe der Verteidigung gegen die Beweiswürdigung sind offensichtlich unbegründet. Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu bereits in ihrem der Angeklagten zugestellten Antrag, die Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO zu verwerfen, das Nötige ausgeführt. Weiteres braucht hierzu auch nach der Revisionshauptverhandlung nicht gesagt werden.

2. Die allgemeine Sachrüge hätte Erfolgsaussichten insoweit gehabt, als tatrichterlich festgestellt wurde, die Angeklagte habe mit dem Zeigen des „Stinkefingers“ nach den Umständen nicht nur dem Zeugen S., als dem Lenker des ihrem Fortkommen hinderlichen Fahrzeugs, sondern auch dem beifahrenden Zeugen D. ihre Mißachtung kundgetan und kundgeben wollen. Hierfür ist dem angefochtenen Urteil eine ausreichende Tatsachengrundlage nicht zu entnehmen. Der Vorwurf einer Beleidigung des Zeugen D., wurde jedoch bereits in der Revisionshauptverhandlung mit Zustimmung der Generalstaatsanwaltschaft im Beschlußwege gemäß § 154 a StPO aus dem Verfahren ausgeschieden.

3. Die Verurteilung der Angeklagten wegen gewaltsamer Nötigung hat auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Januar 1995 Bestand.

Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung ausgeführt, die Auslegung des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB durch die Strafgerichte verstoße gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Die Rechtsprechung habe zwar an der Körperlichkeit als Gewaltmerkmal festgehalten, auf die Kraftentfaltung jedoch weitgehend verzichtet. Allerdings habe sich der Bundesgerichtshof veranlaßt gesehen, der Ausweitung des Gewaltbegriffs dadurch zu begegnen, daß er auf das „Gewicht“ der psychischen Einwirkung abgestellt hat. Damit werde die Eingrenzungsfunktion aber einem Begriff aufgebürdet, der noch weit unschärfer sei als der der Gewalt. An einer befriedigenden Klärung, wann eine psychische Einwirkung gewichtig ist, fehle es daher auch. Diese Auslegung des Gewaltbegriffs lasse nicht mehr hinreichend voraussehen, welches körperliche Verhalten, das andere psychisch an der Durchsetzung ihres Willens hindert, verboten sein soll. Die Ungewißheit, die dem erweiterten Gewaltbegriff des § 240 StGB anhafte, sei auch nicht durch das inzwischen gefestigte Verständnis seiner Bedeutung entfallen.

Diese Entscheidung betrifft zwar unmittelbar nur die Strafbarkeit von Sitzblockaden als Nötigung und bindet die Rechtsprechung daher auch nur insoweit. Die argumentative Weite der Entscheidungsgründe, die nicht ohne weiteres als auf den Bereich beschränkt gewertet werden muß, „in dem die Gewalt lediglich in der körperlichen Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist“ (BVerfG aaO S. 25), verpflichtet aber gleichwohl zu der Prüfung, ob auch gefestigte und vorhersehbare Rechtsprechung zur Nötigung im fließenden Straßenverkehr nunmehr zu überdenken ist.

Jedenfalls für die vorliegende Fallgestaltung kommt der Senat hierbei zu dem Ergebnis, daß kein Anlaß besteht, von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen.

Zwar ist die Nötigungswirkung – von der Gefahrenintensität abgesehen – in beiden Fallgruppen nicht grundsätzlich verschieden. Bei einer Sitzblockade zwingt der Blockierende den Lenker eines in Fahrt befindlichen Fahrzeugs zum Anhalten oder Ausweichen auf eine andere Strecke, will dieser nicht durch seine Weiterfahrt fremdes und möglicherweise auch eigenes Leben gefährden. Beim Fahrbahnwechsel eines Automobils unmittelbar vor ein anderes dort rollendes Fahrzeug wird dessen Lenker zum Bremsen oder Ausweichen gezwungen, will er nicht eine Kollision und damit unter Umständen Lebensgefahr für die Insassen beider Fahrzeuge hinnehmen. Die Verkehrsstörungen in beiden Fällen waren bisher nach gefestigter, nahezu einhelliger Rechtsprechung und herrschender Lehre vorhersehbar als Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB beurteilt worden (vgl. außer der Kommentarliteratur etwa den Beitrag von Günther Kaiser in der Festschrift für Hannskarl Salger, 1995, Seiten 55 ff, insbesondere 56 f und 61 bei Rdnr. 33). Vorhersehbarkeitsprobleme gab es im wesentlichen nur mit dem für den Bereich der Sitzblockaden schwer zu handhabenden tatbestandsbegrenzenden Merkmal der Verwerflichkeit. Der Senat geht davon aus, daß es letztlich die Probleme eines befriedigenden Zusammenspiels des weiten Gewaltbegriffs mit dem jedenfalls im Bereich gerade der Demonstrationscharakter tragenden Sitzblockaden schwierig zu handhabenden tatbestandsbegrenzenden Merkmal der Verwerflichkeit waren, die das Bundesverfassungsgericht zu seiner Entscheidung bewogen haben. Er wertet deshalb diese Entscheidung zunächst auch als nach ihrem Sinngehalt auf den Bereich der Sitzblockaden beschränkt.

Der Senat sieht deshalb derzeit keinerlei verfassungsrechtliche und auch keine einfachrechtliche Gründe, von der bisherigen Auslegung des Gewaltbegriffs für die vorliegende Fallgestaltung des Fahrstreifenwechsels im fließenden Verkehr abzuweichen. Dem Einsatz eines Fahrzeugs im Straßenverkehr kann das Moment der Kraftentfaltung nicht abgesprochen werden. Diese Kraft entfaltet sich hier zwar nicht unmittelbar am Opfer, sondern wirkt auf dieses nur über eine psychisch determinierte Kausalkette; sie hat aber – eine Reaktion beim Opfer im Bereich der menschlichen Norm vorausgesetzt – die der unmittelbaren Krafteinwirkung entsprechende Zwangswirkung. Eine Reduktion des Gewaltbegriffs in § 240 Abs. 1 StGB auf Fälle bereits körperlich fühlbarer Gewalttätigkeit oder der vis absoluta erscheint weder vom Bundesverfassungsgericht gefordert noch mit der Rechtstradition und den anerkannten Auslegungsmethoden vereinbar.

Dieses Auslegungsergebnis schafft im Straßenverkehr auch keine Rechtsunsicherheit; im Gegenteil vermeidet es ein Abweichen von den bei den Teilnehmern am Straßenverkehr nach verkehrsrichterlicher Erfahrung vorherrschenden Strafbarkeitsvorstellungen.

Ob dies im gleichen Maße für die Erzwingung des Überholens durch dichtes Auffahren auf mehrspurigen Straßen gilt (vgl. Günther Kaiser a.a.O. S. 60 f; Schmidt, DAR 1962, 351; Haubrich NJW 1989, 1197; Helmken, NZV 1991, 372), hat der Senat nicht zu entscheiden, da dieser hier allenfalls Versuchscharakter tragende, vom Tatrichter in natürlicher Handlungseinheit gesehene Aspekt der Nötigungstat für den Schuldspruch ohne Bedeutung ist und das Strafmaß, zumal es vom Senat neu bestimmt wurde, hierauf nicht beruht.

B. 1. Die Strafzumessungserwägungen des angefochtenen Urteils treffen zu und reichen aus. Hinzuzufügen ist lediglich, daß der Senat selbst – im Einverständnis von Generalstaatsanwaltschaft und Verteidigung – die für den Wegfall der tateinheitlich vorgeworfenen Beleidigung des Zeugen D. höchstens vertretbare Ermäßigung der Geldstrafe um 5 Tagessätze vorgenommen hat.

2. Die Verfahrensbeschränkung und die Ermäßigung der Strafe haben auf die Kosten keinen Einfluß. Die Rechtsmittel erstrebten jeweils den Freispruch und wären auch bei anfänglicher Verfolgungsbeschränkung eingelegt worden.

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