AG Hamburg-Altona, Az.: 316 C 151/13
Urteil vom 29.07.2013
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Bezahlung von Call-by-Call-Telefonverbindungen in Anspruch.
Der Beklagte ist Inhaber eines Festnetztelefonanschlusses mit der Nummer 040870… . In der Zeit vom 21.2.2011 bis 4.4.2011 wurden von diesem Anschluss aus unterschiedliche Call-by-Call-Telefonverbindungen der Klägerin genutzt (vgl. Einzelverbindungsnachweis, Anlage, Bl. 9 d.A.).
Die Klägerin betreibt unter anderem die Vorwahlnummer 010… mit einem Minutenpreis von € 1,90. Unter dieser Vorwahlnummer hat der Beklagte – oder, nach dessen Angaben, seine Ehefrau – am 22.2.2011 ein 42 Minuten und 32 Sekunden dauerndes Telefonat nach Korea geführt, für welches die Deutsche Telekom AG (im Folgenden: DTAG) im Auftrag der Klägerin € 71,9089 netto abgerechnet hat. Dabei wurde der Preis für das Telefonat vor Herstellung der Verbindung oder im Zusammenhang mit dem Telefonat nicht angegeben.
Nachdem der Beklagte die Rechnung erhalten hatte, widersprach er ihr u.a. mit Schreiben vom 18.7.2011 (Anlage B2, Bl. 19 d.A.), in welchem er den Preis für das Telefonat vom 22.2.2011 als deutlich überhöht bezeichnete und sich darauf berief, dass es an einer entsprechenden Preisabsprache fehle.
Ein anderer Anbieter betreibt die Vorwahl 0100… mit extrem günstigen Verbindungspreisen.
Die Klägerin behauptet, für sie seien durch die DTAG insgesamt mit Rechnung vom 16.6.2011 € 65,57 abgerechnet worden, worauf der Beklagte keine Zahlung geleistet habe.
Die Klägerin beantragt, nachdem sie die Klage im Hinblick auf einzelne Nebenforderungen teilweise zurückgenommen hat, nunmehr, den Beklagten zu verurteilen, an sie € 65,57 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 17.7.2011 sowie € 7,50 Mahnkosten zu zahlen.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Er behauptet, die Klägerin profitierte bei ihrer Vorwahlnummer bewusst bei Telefonkunden, die sich bei der Vorwahl vertippen, weil sie zu den extrem günstigen Preisen der Vorwahlnummer 0100… telefonieren wollen. Um nicht auf Tippfehler aufmerksam zu machen, habe die Klägerin die gesetzlich vorgeschriebene Preisansage vor Gesprächsbeginn unterlassen.
Die üblichen Kosten eines Telefonats nach Korea habe er erstattet, indem er € 20,- überwiesen habe.
Die Klägerin beruft sich darauf, dass eine Verpflichtung zur Preisansage bei Call-by-Call-Diensten erst seit dem 31.8.2013 bestehe.
Mit den beiden Tarifen würden unterschiedliche Sparvorwahlen angeboten. Je nach Ziel des Anrufes könne man daher die eine oder andere Vorwahl nutzen. Sie weise die Unterstellung, dass sie sich die naheliegende Gefahr des Verwählens zu Nutze mache, auf das Schärfste zurück. Die Kunden seien im Rahmen ihrer eigenen Sorgfaltspflichten gehalten, ihre Einwahl gewissenhaft vorzunehmen. Das werde schon daran deutlich, dass der jeweilige Kunde, wenn er bei der Nutzung von Call-by-Call-Verbindungen beim Tippen der ersten Ziffer statt einer Null eine Eins wählt, einen Polizeinotruf absetze oder einen Auskunftsdienst der Rufnummerngasse 118 anwähle. Nach der Argumentation des Gerichts legten es die Anbieter von Call-by-Call-Verbindungen gezielt darauf an, sinnlose Notrufe und Anrufe bei Auskunftsdiensten zu generieren. Alle Unternehmen auf dem Markt der Call-by-Call-Verbindungen müssten sich die Rufnummerngasse 010 teilen, während die weiteren drei Ziffern über den jeweiligen Anbieter der Leistung bestimmten.
Die Rufnummer der Klägerin biete zum Beispiel günstige Verbindungen für Ferngespräche in Deutschland an (Beweis: Inaugenscheinnahme der Seite hhtp://www.010…….de/start.html.)
Die jeweiligen Anbieter deckten nicht die gesamte Palette an Verbindungen ab. So könne beispielsweise ein Anbieter günstige Verbindungen nach Polen oder Russland anbieten, jedoch teure Verbindungen in das Mobilfunknetz.
Ergänzend wird für das Vorbringen der Parteien auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Klage ist nicht begründet. Der Klägerin stehen gegen den Beklagten keine weiteren Ansprüche aus dem über ihre Call-by-Call-Nummer zustande gekommenen Telefonat vom 22.2.2011 zu.
Es kann dahin stehen, ob die Ehefrau des Beklagten im konkreten Fall die Nummer 0100… anwählen wollte und nur wegen eines Fehlers beim Wählen die von der Klägerin betriebene Call-by-Call-Nummer 010… gewählt hat. Denn auch ohne das Vorliegen der Voraussetzungen des § 119 BGB stehen der Klägerin gegen den Beklagten keine weiteren Ansprüche zu. Je nachdem, ob sich die Klägerin von vornherein vorsätzlich in sittenwidriger Weise durch weit überhöhte Preise unter Ausnutzung der Verwechslungsgefahr bereichern wollte oder ob sie den durch maßlos überhöhte Preise entstandenen Anspruch nach Kenntniserlangung von diesem Umstand ohne Rücksicht auf ihren Vertragspartner durchsetzen will, ist der Vertrag wegen Sittenwidrigkeit nichtig (I.1.) oder dem Beklagten steht wegen der Ausnutzung ihrer formellern Rechtsstellung durch die Klägerin als Vertragspartner der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung zu (I.2.).
I.1.
Für den Fall, dass die Klägerin sich die Verwechslungsgefahr mit der Nummer 010011 und die hieraus folgende Unmöglichkeit, konkrete Preisvergleiche anzustellen, bewusst zu Nutze gemacht hat, um eine hochpreisige Nummer anzubieten, unter der eine Verbindung, etwa nach Korea, zum Vielfachen des üblichen und auch von ihr selbst unter anderen Nummern angebotenen Preises, hergestellt wird, ist der Vertrag nichtig gemäß § 138 Abs. 1 BGB.
I.1.1.
Dass eine hohe Verwechslungsgefahr zwischen einzelnen Telefonnummern besteht, sofern es nur um einzelne unterschiedliche Ziffernfolgen innerhalb der ansonsten aus gleichen Ziffernfolgen bestehenden Nummern geht, ist in den Kreisen der Telefonanbieter, zu denen die Klägerin gehört, allgemein bekannt. Das Phänomen hat insbesondere im Wettbewerbsrecht die Gerichte schon mehrfach beschäftigt (vgl. etwa OLG Frankfurt, Urt. v. 11.9.2008, GRUR-RR 2009, S.65 – 0181 vs. 001801). Gerade wenn nur die Telefonnummer die einzelnen Wettbewerber voneinander unterscheidet, ist die Verwechslungsgefahr besonders groß (ebenso OLG Hamburg, Urt. v. 22.5.2003, 3 U 18/03, juris).
Der Hinweis der Klägerin auf die Verwechslungsgefahr zwischen den Rufnummerngassen 010 und den Nummern von Polizei und Rettungsdiensten liegt neben der Sache. Denn das Risiko des Verwählens ist bei der ersten Ziffer weitaus geringer als bei einer Ziffernfolge innerhalb der Nummer (insbesondere dann, wenn die eine Nummer lediglich einer Ziffer weniger enthält als die andere). Zum anderen sind die Notrufnummern seit vielen Jahren als Folgen aus drei Ziffern, die mit „11“ beginnen, bekannt. Und schließlich – das ist entscheidend – macht sich die Klägerin die Verwechslungsgefahr mit anderen Nummern nicht dadurch zu eigen, dass sie überhaupt Call-by-Call-Gespräche in der Rufnummerngasse 010 anbietet. Denn dies liegt – anders als die Preisgestaltung der von ihr verwendeten Nummer 010… – außerhalb ihrer Kompetenz.
I.1.2.
Von Bedeutung wird das bewusste Ausnutzen der Verwechslungsgefahr insbesondere dadurch, dass der Telefonkunde – bis zur Einführung der seit dem 31.8.2012 (nicht 2013, wie die Klägerin angegeben hat) bestehenden Pflicht, einer Preisansage zu machen – keine Möglichkeit hatte, überhaupt zu bemerken, dass er eine Nummer gewählt hat, die nicht seinen Preisvorstellungen entsprach. Auch die Einsichtnahme in Übersichten, etwa in der Tagespresse oder im Internet, nützte ihm dann nichts, wenn er (was in der Natur eines Fehlers liegt) nicht bemerkt hat, dass er eine andere Nummer gewählt hat als diejenige, zu deren Preisen er zu telefonieren beabsichtigte.
I.1.3.
Das bewusste Ausnutzen einer hierdurch geschaffenen Lage ist dann sittenwidrig, wenn ein sittlich verwerfliches Gewinnstreben vorliegt, weil die angebotene Leistung in einem auffälligen, wucherähnlichen Missverhältnis zur erbrachten Leistung steht (vgl. BGH, Urt. v. 14.3.2013, VII ZR 116/12, juris). Nicht anders als beim Ausnutzen eines Informationsvorteils durch einen Auftragnehmer bei Bauleistungen widerspricht ein solches Verhalten eines Telefondienstleisters eklatant dem gesetzlichen Leitbild eines Vertrages, das einen fairen, von Treu und Glauben geprägten Leistungsaustausch im Blick hat (vgl. BGH, a.a.O.).
Ein derart auffälliges Missverhältnis hat der Bundesgerichtshof etwa bei Bauleistungen angenommen, wenn das 22fache des üblichen Preises erzielt werden sollte (BGH, a.a.O.).
I.1.4.
Im vorliegenden Falle besteht ebenfalls ein derartiges Missverhältnis. Nach dem Vorbringen des Beklagten kostete 2011 ein Telefonat nach Korea ca. 4 ct/Minute. Das wären für ein 43-minütiges Gespräch ca. € 1,72. Die Klägerin hat etwa das 42fache hiervon berechnet. Substantiiert bestritten hat die Klägerin diese Preise nicht. Als Betreiberin von mehreren Call-by-Call-Nummern sind ihr die entsprechenden Vergütungen jedoch bekannt, so dass ihr unsubstantiiertes Bestreiten im Hinblick auf die prozessuale Erklärungspflicht nach § 138 Abs. 2 ZPO unbeachtlich ist.
Nach der von der Klägerin selbst eingereichten Einzelverbindungsübersicht mit Verbindungen, die über die von ihr betriebenen Call-by-Call-Nummern hergestellt wurden, kostete im Übrigen ein Gespräch nach Korea vom Anschluss des Beklagten bei Verwendung der Vorwahl 010… am 28.2.2011 € 0,9794 bei einer Dauer von 58:52 Minuten. Das entspricht ca. € 1,- / Stunde und damit ca. 1,7 ct / Minute. Der dem Beklagten berechnete Preis beträgt etwa das Hundertfache davon.
An einem auffälligen Missverhältnis zu den üblichen Preisen im Sinne der BGH-Rechtsprechung besteht mithin aus Sicht des Gerichts kein Zweifel.
Zur Korrektur lediglich unerheblicher Auswirkungen auf die Gesamtvergütung hat der Bundesgerichtshof in den Bauvertragsfällen die weitere Voraussetzung aufgestellt, dass der Werklohn insgesamt in nennenswerter Weise beeinflusst werden muss (vgl. BGH, Urt. v. 14.3.2013, VII ZR 116/12). Da im vorliegenden Falle die von der Klägerin verlangte Vergütung die gesamte Leistung darstellt, ist auch diese Voraussetzung ohne Weiteres erfüllt.
Selbst wenn man die Vergütungshöhe ins Verhältnis zu den Preisen aller über die Call-by-Call-Nummern der Klägerin im Zeitraum zwischen dem 21.2.2011 und dem 26.3.2011 angewählten Telefonate setzt, springt die Maßlosigkeit der Forderung der Klägerin unmittelbar ins Auge. Denn danach kostete kein einziges der dort aufgeführten 27 Gespräche auch nur einen Euro, obgleich sich darunter, wie oben dargelegt, sogar ein noch deutlich längeres Gespräch an den gleichen Teilnehmer in Korea befand.
Es handelt sich demnach unter allen Gesichtspunkten um Wucher, der auf der Ausnutzung fehlender Preistransparenz und der Verwechslungsgefahr beim Wählen von Telefonnummern besteht und von der Rechtsordnung nicht hingenommen werden kann.
I.1.5.
Ob dem Vortrag des Beklagten zu entnehmen ist, dass er sich auf Sittenwidrigkeit beruft, kann dahinstehen. Die Sittenwidrigkeit und damit Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts begründet nicht bloß eine Einrede, sondern ist von Amts wegen zu beachten, bedarf also nicht der ausdrücklichen Geltendmachung (OLG Brandenburg, Urt. v. 21.10.2010, 5 U 117/08).
I.1.6.
Trotz der durch die Klägerin ausgedrückten Empörung über die Vermutung, sie habe sich die Verwechslungsgefahr zu Nutze gemacht, hat diese Vermutung in rechtlicher Hinsicht Bestand. Denn allein aus einem groben Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung kann in der Regel auf die verwerfliche Gesinnung des Begünstigten geschlossen werden. Dieser Schluss leitet sich von dem Erfahrungssatz her, dass außergewöhnliche Leistungen in der Regel nicht ohne Not oder einen anderen den Benachteiligenden hemmenden Umstand zugestanden werden und der Begünstigte diese Erfahrung teilt (BGH, Urt. v. 9.10.2009, V ZR 178/08 m. w. Nachw., juris).
Im Ergebnis kann dies jedoch aus den unter I.2. genannten Gründen für den vorliegenden Fall dahinstehen, so dass auch ein rechtlicher Hinweis gemäß § 139 Abs. 2 ZPO auf diesen seitens der Klägerin offensichtlich übersehenen Gesichtspunkt nicht erforderlich ist
I.2.
Sollte es tatsächlich an der für die Nichtigkeit wegen Wuchers verwerflichen Gesinnung der Klägerin fehlen, steht dem Beklagten der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung zu.
I.2.1.
Hat der Begünstigte die Vermutung verwerflicher Gesinnung entkräftet, so verstößt es gegen Treu und Glauben, § 242 BGB, wenn er den hierauf beruhenden, in einem auffälligen, wucherähnlichen Missverhältnis zur Leistung stehenden Preis verlangt. Denn mit diesem Verlangen würde er sich faktisch in Widerspruch zu seiner Behauptung setzen, er habe nicht vorgehabt, einen Preis zu verlangen, der ihm einen unangemessenen Gewinn verschafft, und es entspreche deshalb nicht seinem Willen, eine derartige Vergütung zu erhalten. Er würde in diesem Fall den Umstand, der sein sittlich verwerfliches Gewinnstreben ausschließt, in der Weise ausnutzen, dass er gleichwohl den unangemessenen, wucherähnlichen Preis durchsetzt. Das wäre die Ausnutzung einer Rechtsposition, die mit Treu und Glauben nicht zu vereinbaren ist (vgl. BGH, Urt. v. 14.3.2013, VII ZR 116/12, juris).
Soweit es das Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung betrifft, wird auf die Ausführungen unter I.1.4. Bezug genommen.
I.2.2.
Darüber hinaus ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass es eine unzulässige Rechtsausübung darstellt, wenn der Empfänger ein Vertragsangebot annimmt und auf der Durchführung des Vertrages besteht, obwohl er wusste (oder sich treuwidrig der Kenntnisnahme entzog), dass das Angebot auf einem Kalkulationsirrtum des Erklärenden beruht (vgl. BGH, Urt. v. 7.7.1998, X ZR 17/97 m. w. Nachw., juris).
Auch diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall erfüllt. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Klägerin bewusst ist, dass der Beklagte (oder dessen Ehefrau) die Nummer 010… versehentlich angewählt hat, sei es, weil die Nummer mit 0100… verwechselt wurde oder weil die Nummer 0100… gewählt werden sollte, aber durch einen Fehler beim Wählvorgang die Nummer 010… gewählt wurde.
Die Nummer 010… ermöglichte nämlich in dem den 22.2.2011 enthaltenden Zeitraum unstreitig Call-by-Call-Telefonate grundsätzlich nur zu einem Minutenpreis von € 1,90. Dieser Preis übersteigt, wie oben unter I.1.4 ausgeführt, bei dem hier in Rede entstehenden Zielgebiet den Preis anderer von der Klägerin unterhaltener Vorwahlnummern um das Hundertfache. Irgendeinen wirtschaftlich oder menschlich nachvollziehbaren Grund zu finden, zur Herstellung einer Telefonverbindung eigens eine Vorwahlnummer anzuwählen, die ein Konkurrenzangebot desselben Telefondienstleisters kostenmäßig um das Hundertfache übersteigt und den Normalpreis um das 42fache, dürfte auch das Vorstellungsvermögen der verantwortlichen Mitarbeiter der Klägerin übersteigen. Das Gericht kann sich einen solchen Grund jedenfalls nicht vorstellen.
Soweit die Klägerin ganz allgemein behauptet, beide Produkte (010… und 0100…) böten unterschiedliche Sparvorwahlen an, so dass die Möglichkeit bestehe, je nach Ziel des Anrufes die eine oder die andere Vorwahl zu nutzen, ist dies durch keinerlei Tatsachen belegt. Auf die mit Beschluss vom 10.6.2013 (Bl. 27 d.A.) ergangene gerichtliche Aufforderung, substantiiert vorzutragen, in welche Region eine Anwahl mit der Nummer 010… am 22.2.2011 günstiger gewesen wäre, als eine Anwahl mit der Nummer 0100…, hat die Klägerin nicht reagiert. Soweit die Klägerin unter Beweisantritt die – ebenfalls unsubstantiierte – Behauptung aufstellt, sie biete derzeit günstige Ferngespräche in Deutschland an, ist dies unerheblich. Denn relevant sind hier nur die Preise im Februar 2011, nach denen das Gericht deshalb auch ausdrücklich gefragt hatte. Eine Inaugenscheinnahme ihrer Website erübrigt sich daher.
Damit bleibt – auch aus der maßgeblichen Sicht der Klägerin – als einziger Grund für die Anwahl der Nummer 010… ein Irrtum des Wählenden, sei es über die angewählte Nummer oder über die Preisgestaltung des Unternehmens, das die Nummer betreibt.
Dass sich der materielle Verlust des Beklagten (ca. € 65,-) bei Annahme der Gültigkeit und Verbindlichkeit des Vertrages in Grenzen hält, hat für die Frage der Sittenwidrigkeit des Verhaltens der Klägerin keine Bedeutung. Denn dieser Umstand – dass es sich beim Telefonieren um ein Massengeschäft des täglichen Lebens handelt, dessen Kosten i.d.R. (doch selbst hiervon gibt es bekanntermaßen Ausnahmen) überschaubar und bezahlbar bleiben – macht das Ausnutzen von Irrtümern der Kunden, das für den Betreiber der Telefonvorwahlnummern ohne weiteren technischen Aufwand von Statten geht, besonders attraktiv.
Dafür, dass dem Beklagten die vertragliche Bindung unzumutbar ist, reicht vielmehr aus, dass eine exorbitante Gewinnsteigerung auf Seiten der Klägerin vorliegt (vgl. dazu BGH, Urt. v. 30.6.2009, XI ZR 364/08). Dass das Ausnutzen der Irrtümer von Telefonierenden insgesamt zu einer derartigen – im Verhältnis zur Leistung – exorbitanten Gewinnsteigerung führt, liegt auf der Hand. Es wird nicht dadurch weniger treuwidrig, dass sich die Verluste des einzelnen Kunden in gewissen Grenzen halten.
I.3.
Auf die Frage, wie sich die Forderungsberechnung der Klägerin (sie verlangt € 65,57 aus einem Nettobetrag von € 71,9089, obgleich der Beklagte nichts gezahlt haben soll) mit den von ihr vorgelegten Unterlagen und dem unstreitigen Vorbringen des Beklagten verträgt, kommt es im Ergebnis nicht an.
Dass der Beklagte € 20,- auf den Bruttobetrag gezahlt hat, hat die Klägerin nämlich nicht bestritten. Dieser Betrag übersteigt bereits denjenigen, den die Klägerin aufgrund von § 632 Abs. 2 BGB, der hier entsprechend anwendbar ist (vgl. BGH, Urt. v. 14.3.2013, VII ZR 116/12) hätte beanspruchen können. Diesbezüglich wird auf I.1.4. verwiesen, wonach € 0,04 / Minute als übliche Vergütung anzusetzen sind.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
III.
Das Gericht lässt die Berufung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu, weil die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Ausnutzung eines Irrtums des Kunden bei der Anwahl einer Call-by-Call-Nummer sittenwidrig oder rechtsmissbräuchlich ist, in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt wird.
Vereinzelt haben Gerichte in vergleichbaren Fällen (verdeckter Wechsel der Tarifstruktur mit maßlos überhöhten neuen Preisen bei der Internet-by-Call-Telefonie) ebenfalls Sittenwidrigkeit bejaht (z. B. AG Würzburg, Urt. v. 14.11.2011, VuR 2011, S. 65; AG Kempten, Urt. v. 25.5.2011, CR 2012, S. 58).
Andererseits hat etwa das AG Neuburg die Auffassung vertreten, die Annahme von Wucher komme bei Call-by-Call-Verträgen grundsätzlich nicht in Betracht, weil es in einer Marktwirtschaft den Parteien grundsätzlich frei stehe, zu entscheiden, zu welchen Preisen sie die Erbringung von Dienstleistungen vereinbaren (Urt. v. 16.2.2011, 2 C 563/10, juris). Andere Gericht stehen auf dem Standpunkt, bei Call-by-Call-Telefonaten komme niemals Wucher in Betracht, weil allgemein bekannt sei, dass es unterschiedliche Preise gibt (so LG Deggendorf, Urt. v. 26.5.2011, 13 S 141/10, zitiert nach http://www.ra-kotz.de/call_by_call_vertraege_tarifveroeffentlichung.htm) bzw. die Preise bei einzelnen Anbietern erheblich schwanken (so AG Landau a.d. Isar, Urt. v. 3.5.2012, 2 C 524/10). Das letztgenannte Urteil ist vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben und an eine andere Abteilung des AG zurückverwiesen worden, weil der Inhalt des § 138 Abs. 1 BGB in krasser Weise missverstanden worden sei (BVerfG, B. v. 24.3.2013, 1 BvR 1457/12). In der Tat wird von den letztgenannten Gerichten schon grundsätzlich verkannt, dass auch unter der Geltung der Privatautonomie ergänzend solche zivilrechtlichen Generalklauseln eingreifen, die als Übermaßverbote wirken, vor allem die §§ 138, 242, 315 BGB, und sich der entsprechende Schutzauftrag des Grundrechts dann an den Richter richtet, der den objektiven Grundentscheidungen der Grundrechte in Fällen gestörter Vertragsparität mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen hat (vgl. schon BVerfG, B. v. 27.7.2005, 1 BvR 2501/04, juris).