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Verkehrsunfall – Anscheinsbeweis für Auffahrverschulden nach Fahrstreifenwechsel

Klarer Anscheinsbeweis: Auffahrverschulden nach Fahrstreifenwechsel

Das Oberlandesgericht Hamburg entschied, dass bei einem Verkehrsunfall nach einem Fahrstreifenwechsel der Anscheinsbeweis für ein Auffahrverschulden gilt. Dies bedeutet, dass der Auffahrende üblicherweise als verantwortlich angesehen wird, es sei denn, es gibt eindeutige Beweise, die das Gegenteil belegen. Das Gericht betont die Bedeutung des Sicherheitsabstandes und der Aufmerksamkeit beim Fahren, insbesondere nach einem Fahrstreifenwechsel.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 14 U 181/21   >>>

Das Wichtigste in Kürze


Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  1. Auffahrverschulden: Der Anscheinsbeweis deutet auf die Schuld des Auffahrenden hin.
  2. Fahrstreifenwechsel: Kritische Rolle bei der Beurteilung des Unfallhergangs.
  3. Beweislast: Liegt beim Auffahrenden, um den Anscheinsbeweis zu entkräften.
  4. Unfallkausalität: Betonung auf der Verbindung zwischen Fahrstreifenwechsel und Auffahrereignis.
  5. Schadensbilder: Wichtig zur Ermittlung der Fahrzeugpositionen und -bewegungen.
  6. Sicherheitsabstand: Notwendigkeit eines angemessenen Abstands zum Vordermann.
  7. Gerichtsurteil: Bestätigt die bestehende Rechtsprechung zu Auffahrverschulden.
  8. Unfallbeteiligte: Ihre Aussagen und Verhalten sind zentral für die Beweisführung.

Verkehrsunfälle und Rechtsprechung: Der Anscheinsbeweis bei Auffahrverschulden

Im Kontext von Verkehrsunfällen spielt der Anscheinsbeweis eine entscheidende Rolle, insbesondere wenn es um das Auffahrverschulden nach einem Fahrstreifenwechsel geht. Diese Situationen werfen oft Fragen auf bezüglich der Verantwortlichkeiten der beteiligten Fahrer und wie Gerichte diese Fälle bewerten. Das Konzept des Anscheinsbeweises ermöglicht es, bei typischen Unfallkonstellationen eine erste Schuldvermutung gegen den Auffahrenden zu richten. Die Umstände eines jeden Falls, wie die Art des Fahrstreifenwechsels und die Reaktionen der beteiligten Fahrer, sind dabei von besonderer Bedeutung.

In der Rechtsprechung, insbesondere in Urteilen von Institutionen wie dem Oberlandesgericht Hamburg, werden solche Fälle häufig verhandelt. Die Analyse solcher Urteile bietet wertvolle Einblicke in die Anwendung rechtlicher Grundsätze auf konkrete Situationen. Es wird spannend zu sehen, wie das Gericht in einem spezifischen Fall von Auffahrverschulden nach einem Fahrstreifenwechsel entschieden hat, insbesondere unter Berücksichtigung der Berufung der beteiligten Parteien. Tauchen Sie mit uns ein in die Details dieses faszinierenden Falles, um ein tieferes Verständnis für die juristische Bewertung von Verkehrsunfällen zu entwickeln.

Verkehrsunfall am Oberlandesgericht Hamburg: Der Fall des Auffahrverschuldens

Bei einem Verkehrsunfall am 18.08.2020 war ein Kläger auf der L. Hauptstraße in Hamburg in einen LKW, geführt von Zeugin L., aufgefahren. Der Kläger behauptete, die Zeugin sei ungebremst und ohne zu blinken direkt vor ihm in die Spur gewechselt und habe dann plötzlich gebremst. Die Zeugin L. hingegen gab an, sie sei regulär in die linke Spur gewechselt und habe vor einer roten Ampel angehalten, woraufhin es nach etwa 4 bis 5 Sekunden zur Kollision kam. Das Landgericht Hamburg sah die Darstellung der Zeugin L. als glaubhafter an und wies die Schadensersatzansprüche des Klägers zurück, da er die Alleinhaftung trage.

Anscheinsbeweis und die Deutung der Fahrzeugpositionen

Im Mittelpunkt der juristischen Betrachtung stand der Anscheinsbeweis für das Auffahrverschulden des Klägers. Es wurde festgestellt, dass der Zusammenstoß achsparallel und mit wesentlicher Überdeckung erfolgte, was auf ein Auffahren des Klägers hindeutet. Fotos zur Unfallendstellung zeigten, dass das Gespann der Zeugin L. bereits vollständig in die Spur des Klägers eingeordnet war. Der Kläger konnte den gegen ihn gerichteten Anscheinsbeweis nicht erschüttern, da er keine überzeugenden Beweise für einen anderen Unfallhergang vorlegen konnte.

Bewertung des Unfallhergangs und rechtliche Herausforderungen

Das Gericht bewertete die Angaben beider Parteien kritisch, insbesondere die des Klägers, der als darlegungs- und beweisbelastet galt. Es wurde hervorgehoben, dass Fahrstreifenwechsel in der Regel nicht abrupt ablaufen und genügend Zeit für den nachfolgenden Verkehr lassen, um den Sicherheitsabstand anzupassen. Die Argumentation des Klägers, er sei durch das unerwartete Verhalten der Zeugin L. überrascht worden, fand keine Anerkennung, da ein Spurwechsel eines solch großen Fahrzeugs wie des LKW-Gespanns nicht plötzlich erfolgen kann.

Das Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg

Das Oberlandesgericht Hamburg beabsichtigte, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg zurückzuweisen. Es wurde klargestellt, dass der Kläger für den Unfall die Alleinverantwortung trägt. Zusätzlich betonte das Gericht, dass keine grundsätzliche Bedeutung für eine höhere Instanz vorliegt und eine mündliche Verhandlung nicht geboten sei. Der Kläger wurde darauf hingewiesen, eine Rücknahme seiner Berufung in Betracht zu ziehen.

In diesem spezifischen Fall zeigt sich deutlich, wie Gerichte mit Fahrstreifenwechseln und Auffahrverschulden umgehen. Dabei spielen sowohl die Interpretation des Unfallhergangs als auch die Anwendung des Anscheinsbeweises eine zentrale Rolle. Das Urteil liefert somit wichtige Erkenntnisse für vergleichbare Fälle und unterstreicht die Bedeutung von detaillierten Beweisführungen in derartigen Verkehrsunfallsituationen.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


Was ist ein Anscheinsbeweis und wie wird er im Kontext von Verkehrsunfällen angewendet?

Der Anscheinsbeweis ist ein juristisches Konzept, das in Situationen angewendet wird, in denen der genaue Hergang eines Ereignisses nicht nachgewiesen werden kann. Es basiert auf Erfahrungssätzen und ermöglicht Rückschlüsse auf den Ablauf eines Ereignisses, wenn dieser typisch abgelaufen ist und keine Tatsachen vorgelegt werden, die auf einen ungewöhnlichen Geschehensablauf hindeuten. Der Anscheinsbeweis ist ein Element des Gewohnheitsrechts und findet sich in der Zivilprozessordnung (ZPO) in § 371a wider, wo die Beweiskraft elektronischer Dokumente geregelt ist.

Im Kontext von Verkehrsunfällen wird der Anscheinsbeweis häufig angewendet, um bei nicht vollständig aufklärbaren Geschehensabläufen eine Verurteilung zu ermöglichen. Ein typisches Beispiel für die Anwendung des Anscheinsbeweis ist der Auffahrunfall, bei dem oft der Grundsatz „wer auffährt, hat Schuld“ gilt. Dies basiert auf der Annahme, dass der Auffahrende entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, unaufmerksam war oder mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist.

Allerdings kann der Anscheinsbeweis widerlegt werden, wenn der Beschuldigte belegen kann, dass eine ungewöhnliche Situation vorlag, wodurch der Unfall ohne sein Verschulden passieren konnte. Beispielsweise wäre dies der Fall, wenn der Vorausfahrende einen Spurwechsel vornahm und es deshalb zum Auffahrunfall kam. Um den Anscheinsbeweis zu entkräften, muss der Schädiger einen atypischen Kausalverlauf darlegen und beweisen, wonach eine typische Unfallsituation in dem konkreten Fall gerade nicht vorlag.

Es gibt auch andere Situationen, in denen der Anscheinsbeweis angewendet wird. Beispielsweise spricht der Anscheinsbeweis gegen den Fahrer, der mit seinem Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn geraten ist und dadurch die Kollision verursacht hat. Bei einem Zusammenstoß bei oder direkt nach einem Fahrstreifenwechsel spricht der Anscheinsbeweis gegen den Spurwechsler.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat jedoch darauf hingewiesen, dass bei der Anwendung des Anscheinsbeweises Zurückhaltung geboten ist, da er es erlaubt, bei typischen Geschehensabläufen auf Grund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist.


Das vorliegende Urteil

Oberlandesgericht Hamburg – Az.: 14 U 181/21 – Beschluss vom 22.06.2022

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 18.10.2021, Aktenzeichen 323 O 267/20, durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.

2. Der Kläger kann hierzu binnen 2 Wochen Stellung nehmen.

Gründe

I.

Die zulässige Berufung des Klägers ist offensichtlich unbegründet. Das Landgericht hat zu Recht Schadensersatzansprüche des Klägers gegen die Beklagte aufgrund des Verkehrsunfalls vom 18.08.2020 verneint. Die Beklagte haftet bereits dem Grunde nach nicht, da den Kläger die Alleinhaftung trifft.

1.

Das Landgericht ist zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kollision zwischen dem von dem Kläger auf der linken Spur der L. Hauptstraße gefahrenen PKW und dem von der Zeugin L… zuvor von der rechten in die linke Spur geführten Gespann (Sattelzugmaschine mit Sattelaufleger/Tank) auf einem unfallkausalen und schuldhaften Auffahren des Klägers, nicht dagegen auf einem Fahrstreifenwechsel der Zeugin L… beruht. Dies steht kraft Anscheins fest.

a) In der Hamburger Rechtsprechung gilt zur Abgrenzung von Auffahrunfällen und gefährlichen Fahrstreifenwechsel im innerstädtischen Verkehr Folgendes (siehe u.a. Hinweisbeschluss vom 17.01.2018,14 U21/17, nicht veröffentlicht): Stoßen die Fahrzeuge achsparallel mit einer Überdeckung von mindestens etwa 2/3 ihrer Fahrzeugbreite im selben Fahrstreifen zusammen, spricht der Anschein für einen Auffahrunfall i.S. von § 4 Abs. 1 StVO. Hat dagegen das einwechselnde Fahrzeug Seiten- oder nur Eckschäden am Heck mit einer geringen Überdeckung, spricht der Anschein dafür, dass sich der Unfall im inneren Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel ereignet hat. Hintergrund für diese Rechtsprechung ist, dass das Schadensbild die Stellung der Fahrzeuge zueinander aufzeigt, und weiter, dass ein Fahrstreifenwechsel nicht abrupt abläuft und für den Hintermann bei den in geschlossenen Ortschaften gefahrenen Geschwindigkeiten genügend Zeit bleibt, mit einer Anpassung seines eigenen Tempos den gehörigen Sicherheitsabstand zum Vordermann wiederherzustellen. Auch ist die Breite von Fahrstreifen zu berücksichtigen. Fahrzeuge fahren fast nie deckungsgleich hintereinander. Deshalb sind etwa Überdeckungen, die am Heck des einwechselnden Fahrzeugs über Eckschäden hinausgehen, nicht ausreichend, um einen Anschein für einen unfallbedingten Spurwechsel anzunehmen. Umgekehrt deuten mittig durch einen Frontalanstoß entstandene (großflächig überlappende) Schadenbilder typischerweise auf ein unfallkausales Auffahren hin.

Der vorliegende Sachverhalt gibt keine Veranlassung die Senatsrechtsprechung zu revidieren:

Richtig ist der Hinweis des Klägers darauf, dass Teile der Rechtsprechung das Eingreifen eines Anscheinsbeweises für ein Auffahren verneinen, wenn nach einem Spurwechsel die Fahrzeuge nicht so lange hintereinander in einer Spur gefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen einstellen konnten (so etwa jeweils für Autobahnunfälle: OLG Frankfurt, Urteil vom 9. Juni 2020 – 22 U 70/18 –, Rn. 8, juris; OLG Düsseldorf, Urteil vom 19. Januar 2010 – I-1 U 89/09 –, Rn. 28, juris). Gestützt wird diese Einschätzung auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs für einen Auffahrunfall im Bereich einer Autobahnausfahrt mit einem Schräganstoß (BGH, Urteil vom 30. November 2010 – VI ZR 15/10 –, Rn. 8, juris; siehe auch BGH, Urteil vom 13. Dezember 2011 – VI ZR 177/10 –, BGHZ 192, 84-90, Rn. 11; BGH, Urteil vom 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16 –, Rn. 11, juris). Hier geht es jedoch um einen Unfall im Stadtbereich mit einem zentralen Anstoß und qualifizierter Schadenüberdeckung.

Inzwischen hat zwar das Kammergericht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf den mehrspurigen innerstädtischen Verkehr übertragen (KG Berlin, Urteil vom 22. Dezember 2021 – 25 U 33/21 –, Rn. 37, juris; Revision wurde zugelassen: Rn. 58), jedoch ist der vorliegende Sachverhalt anders gelagert. Das Kammergericht hatte einen Fall zu beurteilen, in dem der Kläger mit seinem PKW vom mittleren in den linken Fahrstreifen einer insgesamt dreispurigen Fahrbahn gewechselt war und vor einer roten Ampel angehalten hatte, als es zum Auffahren durch das Beklagtenfahrzeug kam (a.a.O., Rn. 1). Hier ist dagegen eine Zugmaschine mit Aufleger aufgrund einer Straßenverengung in den linken Fahrstreifen einer zweispurigen Fahrbahn eingefahren. Dabei kann offen bleiben, ob sich die vom Bundesgerichtshof maßgeblich zur Verneinung der Typizität eines Auffahrens herangezogene „bekannte Fahrweise auf Autobahnen“ – wie vom Kammergericht angenommen – auf den innerstädtischen Verkehr übertragen lässt, da dort die gefahrenen Geschwindigkeiten geringer sind als auf Autobahnen; denn vorliegend ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dem fahrstreifenwechselnden Fahrzeug nicht um einen PKW, sondern um ein wesentlich längeres, größeres, schwerfälligeres und damit für den nachfolgenden Verkehr gut sichtbares Gespann (nach Angabe der Zeugin L… mit einer Länge von 17 m) handelt (vgl. Fotos in Anlage K 6 und auf Anlage 2 zum Protokoll), bei dem ein Fahrstreifenwechsel bis zur vollständigen Eingliederung des gesamten Zuges in die Spur weniger abrupt verläuft als bei einem PKW. Jedenfalls bei einem solchen Fahrzeugtyp reicht in der Regel die im Bereich einer Fahrbahnverengung typischerweise gefahrene Geschwindigkeit bzw. die für den vollständigen Fahrstreifenwechsel benötigte Strecke und Zeit aus, damit der Hintermann seinen Sicherheitsabstand anpassen kann.

b) Nach Maßgabe der vorstehenden Grundsätze ist hier von einem unfallkausalen Auffahren des Klägers auszugehen.

aa) Die Anhörung des Klägers und die Vernehmung der Zeugin L… haben kein klares Bild zum Unfallhergang ergeben.

Einerseits hat der Kläger geschildert, die Zeugin L… sei ungebremst und ohne Blinken in seine Spur direkt vor sein Fahrzeug gefahren und habe dann „plötzlich“ gebremst, so dass ein enger örtlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Einfahren des LKW in die Spur des Klägers und der Kollision gegeben wäre. Andererseits hat die Zeugin L… bekundet, sie sei in die linke Spur gewechselt, habe sich einer Baustelle angenähert und dort vor einer roten Ampel angehalten. Dann sei es „nach etwa 4 bis 5 Sekunden“ zur Kollision gekommen. Danach wäre der Fahrstreifenwechsel vor der Kollision abgeschlossen gewesen; die Zeugin L… hätte sich vollständig in den Verkehr auf der linken Fahrspur eingeordnet.

Ob und ggf. welche der beiden Sachverhaltsvarianten zutrifft, ist aufgrund der Parteianhörung und Zeugenvernehmung nicht erwiesen. Das Landgericht hat die Bekundungen der Zeugin L… im Kern als glaubhaft angesehen, obwohl diese als Grund für ihr Anhalten wiederholt eine Lichtzeichenanlage angab, die nach den erstinstanzlichen Feststellungen weder auf den Fotos (Anlage 2 zum Protokoll, Bl. 40 d. A.) noch in der Ermittlungsakte dokumentiert ist. Selbst wenn aber die Richtigkeit der Sachverhaltsschilderung der Zeugin L… zum Grund ihres Bremsens bezweifelt wird, folgt daraus nicht, dass die Parteiangaben des darlegungs- und beweisbelasteten Klägers zum nicht abgeschlossenen Fahrstreifenwechsel zutreffend sind. Zu Recht weist das Landgericht darauf hin, dass sowohl der Kläger als auch die Zeugin L… als unmittelbare Unfallbeteiligte ein erhebliches Eigeninteresse am Ausgang des Rechtsstreits haben. Hinzukommt, dass unfallbeteiligte Fahrer typischerweise bereits nach kurzer Zeit nicht mehr zu einer objektiven Schilderung des Geschehens sowie belastbaren Zeit- und Entfernungsangaben in der Lage sind. Insofern unterliegt die Richtigkeit der Angaben des Klägers ebenfalls Zweifeln. Die Argumentation des Klägers zielt darauf ab, er sei durch das Fahrverhalten der Zeugin L… überrascht worden und habe nicht unfallvermeidend etwa durch Herstellen eines Sicherheitsabstandes reagieren können. Die Durchführung eines Spurwechsels mit einer Zugmaschine mit Anhänger benötigt indes eine längere Strecke und nimmt Zeit in Anspruch; der LKW kann nicht plötzlich (stark bremsend) mit der auf den Anlagen B2 und K 6 sowie der Anlage 2 zum Protokoll dokumentierten Ausrichtung des gesamten Zuges unmittelbar vor dem PKW des Klägers aufgetaucht sein.

bb) Die Beklagte kann sich – anders als der Kläger – auf einen Anscheinsbeweis für ein unfallursächliches Auffahren des Klägers stützen. Sie hat – entgegen der Ansicht des Klägers – bewiesen, dass der PKW und das Gespann gleichgerichtet, d.h. die Fahrzeugfronten in die gleiche Fahrtrichtung ausgerichtet waren, und dass weiter der Zusammenstoß achsparallel und mit wesentlicher Überdeckung erfolgte.

(1) Die Fotos zur Unfallendstellung (Anlagen B 2; auch die Anlage 2 zum Protokoll vom 18.10.2021 auf Bl. 40 d. A.) und die Schadenbilder an den Fahrzeugen belegen, dass die Zugmaschine nebst Aufleger schon im Moment der Kollision – wie von der Zeugin L… bekundet – vollständig in die vom Kläger befahrene Spur eingeordnet waren:

So ist auf Seite 2 der Anlage B 2 gut zu erkennen, dass das Heck des Anhängers gerade und mit allen Rädern in der linken Spur steht. Der Anlage 2 zum Protokoll (Bl. 40 d. A.) ist keine Schrägstellung zu entnehmen; das gesamte Gespann befindet sich gerade in einer Spur.

Aus Seite 1 der Anlage B 2 folgt weiterhin, dass die Schäden mittig mit (nahezu) vollständiger Überdeckung eingetreten sind. Dies korrespondiert mit den Feststellungen der Polizei (Seiten 3 und 4 der BA) sowie dem vom Kläger eingereichten Gutachten (Anlage K 1). Dort ist ein Anstoß gegen die Front des Fahrzeugs festgehalten (S. 2 und 3).

(2) Die vom Kläger erstinstanzlich nach Schluss der mündlichen Verhandlung in einem nicht nachgelassenen Schriftsatz eingereichte Anlage K 6 führt zu keinem anderen Ergebnis. Zum einen hat der Kläger in der Berufungsbegründung nicht dargelegt, warum der vom Landgericht nach § 296a ZPO zurückgewiesene Vortrag im Berufungsverfahren berücksichtigungsfähig sein soll. Zum anderen ist dem Foto nichts anderes als den Lichtbildern in der Anlage B 2 oder der Anlage 2 zum Verhandlungsprotokoll (Bl. 40 d. A.) zu entnehmen: Der LKW steht gerade in Fahrtrichtung; sämtliche Reifen der linken Seite sind in einer Spur. Was sich darüber hinaus aus dem – auch in der Berufungsbegründung – nicht eingereichtem Video ergeben soll, trägt der Kläger nicht vor.

(3) Im Übrigen hat der Kläger in seiner Anhörung selbst formuliert: „Die Unfallgegnerin fuhr … in meine Spur … hat sich praktisch direkt vor mein Fahrzeug gesetzt, da war also praktisch kein Abstand …, als sie in die linke Spur gewechselt ist.“ Belastbare Anhaltspunkte für eine Schrägstellung oder ein noch nicht vollständiges Einordnen des Gespanns in die linke Spur im Moment der Kollision folgen aus dieser Beschreibung nicht.

b) Da ein Auffahrunfall kraft Anscheins feststeht, besteht weiterhin ein Anschein dafür, dass der auffahrende Kläger entweder unaufmerksam oder zu dicht aufgefahren war.

c) Der Kläger hat den gegen ihn streitenden (doppelten) Anscheinsbeweis eines unfallkausalen und sorgfaltswidrigen Auffahrens nicht erschüttert. Der Kläger hat insbesondere keine Tatsachen dargelegt, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs als ein Auffahren auf das Gespann ergibt. Insofern war das Landgericht – entgegen der Klägeransicht – auch nicht gehalten, ein Sachverständigengutachten einzuholen; zumal die Berufungsbegründung nicht aufzeigt, welchen (rechtzeitig gestellten) Beweisantrag des Klägers das Landgericht übergangen haben soll.

aa) Der Umstand, dass die Zeugin L… schon vor dem streitgegenständlichen Spurwechsel mehrfach die Spur (möglicherweise ohne dies jeweils rechtzeitig durch Lichtzeichen anzuzeigen) gewechselt hat, steht der Annahme eines Anscheinsbeweises für ein Auffahren des Klägers nicht entgegen. Abgeschlossene, abgrenzbare und folgenlos gebliebene Fahrmanöver der Zeugin L… im Vorfeld zur streitgegenständlichen Kollision begründen nicht sogleich die ernsthafte Möglichkeit einer (nachgelagerten) unfallursächlichen Sorgfaltspflichtverletzung.

bb) Die nur ernsthafte Möglichkeit einer nicht verkehrsbedingten Vollbremsung durch die Zeugin L… genügt ebenfalls nicht, den gegen den Kläger sprechenden Anschein zu erschüttern. Zwar kann der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis erschüttert werden, wenn der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges „ruckartig“ – etwa infolge einer Kollision – zum Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist. Daran fehlt es aber, wenn das vorausfahrende Fahrzeug durch eine Voll- oder Notbremsung zum Stillstand kommt, denn ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren (BGH, Urteil vom 16. Januar 2007 – VI ZR 248/05 –, Rn. 6 m.w.N., juris). Hier ist es zu keinem atypischen bzw. ruckartigen Anhalten des Gespanns etwa durch Anstoß gegen ein Hindernis gekommen.

cc) Die vom Kläger behauptete Sichtverdeckung durch das Gespann beseitigt den Anschein für ein Auffahren ebenfalls nicht. Die vom Kläger angeführte Rechtsprechung des BGH ist auf den vorliegenden Sachverhalt nicht übertragbar.

Der BGH hat eine Erschütterung des Anscheinsbeweises in Betracht gezogen, wenn der Auffahrende den Nachweis dafür erbringt, dass (auf einer Autobahn) ein Fahrzeug vorausgefahren ist, welches nach seiner Beschaffenheit geeignet war, dem Nachfahrenden die Sicht auf das Hindernis zu versperren, dieses Fahrzeug erst unmittelbar vor dem Hindernis (z.B. aufgrund eines Tierwechsels) spontan ausscheren muss bzw. die Fahrspur gewechselt hat und dem Nachfahrenden ein Ausweichen infolge Verkürzung der ihm normalerweise zur Verfügung stehenden Reaktionszeit nicht mehr möglich oder erheblich erschwert war (BGH, Urteil vom 16. Januar 2007 – VI ZR 248/05 –, Rn. 5, juris; BGH, Urteil vom 9. Dezember 1986 – VI ZR 138/85 –, Rn. 19 f., juris).

Der streitgegenständlichen Kollision im innerstädtischen Verkehr liegt ein gänzlich anderer Sachverhalt zugrunde.

2.

Ein Mitverschulden der Zeugin L… steht nicht fest. Der Kläger hat seine – von der Zeugin L… in Abrede gestellte – Behauptung nicht bewiesen, dass die Zeugin L… das von ihr geführte Gespann abrupt und grundlos (aufgrund einer Überforderung mit der Verkehrssituation) abgebremst habe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 StVO). Der Grund für das Abbremsen des LKW konnte nicht aufgeklärt werden. Zwar unterliegt nach den Feststellungen des Landgerichts die Bekundung der Zeugin L… Bedenken, sie habe vor einer Rotlicht gebenden Lichtzeichenanlage gehalten, jedoch steht damit noch nicht zweifelsfrei fest, die Zeugin habe ohne Anlass gebremst. Zunächst ist nicht ersichtlich, warum die Zeugin L… grundlos für sich und andere eine schadenträchtige Gefahrenlage geschaffen haben sollte. Auf Frage des Klägers nach dem Grund für ihr Bremsen soll sie erklärt haben, sie sei im Stress gewesen und habe ihr Ziel schnell erreichen müssen; dann wäre aber ein grundloses Abbremsen nicht nachvollziehbar. Weiterhin befand sich an der Unfallstelle ausweislich der Anlage 2 zum Protokoll und den Feststellungen der Polizei eine Fahrbahnverengung infolge einer Baustelleneinrichtung. Dass es in solchen Bereichen im innerstädtischen Verkehr auf einer Hauptstraße um die Mittagszeit in Fahrtrichtung Innenstadt verkehrsbedingten Anlass zu Bremsmanövern geben kann, ist nicht ausgeschlossen.

3.

Zu Recht hat das Landgericht eine Alleinhaftung des Klägers angenommen. Daran ändert auch die erhöhte Betriebsgefahr des LKW nichts, auf die die Berufungsbegründung hinweist. Zwar kann diese häufig mit 30 % angesetzt werden, jedoch ist vorliegend nicht dargelegt und bewiesen, dass die erhöhte Betriebsgefahr des Gespanns unfallkausal war.

II.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Auch erscheint eine Entscheidung des Berufungsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht erforderlich. Eine mündliche Verhandlung ist nicht geboten.

Der Kläger sollte eine Berufungsrücknahme in Betracht ziehen.

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